Ein «paar» Gedanken zum neuen #ZüriWest-Album «Loch dür Zyt» - meiner Meinung nach ihre beste Platte diesem Jahrtausend. Vielleicht sogar ein Meisterwerk.
Selbstzitate
…gibt’s viele auf diesem Album - musikalische als auch textliche. Kurze Referenzen an die Vergangenheit, an frühere Songs, Stimmungen und Charaktere.
Kunos Stimme
…die auf der Single «Loch dür Zyt» so erschreckend brüchig und müde klang, ist auf dem Rest des Albums viel stärker und sicherer.
Keine Refrains - dieses Prinzip ziehen Züri West auf diesem Album noch konsequenter durch als früher. Praktisch alle dieser Songs haben keinen eigentlichen Refrain, und hören meistens - auch das ein Kuno-Special - hören mit einer Wiederholung der Anfangs-Zeilen auf.
Coverversionen
…hat’s gleich deren 3:
- Mercury Blues (im Original von K.C. Douglas https://www.youtube.com/watch?v=QsTfCITzISM)
- Im Bett (im Original von der CH-Band Frostschutz https://mx3.ch/t/aWv)
- Vanishing Act (im Original von Lou Reed https://www.youtube.com/watch?v=9As6iYfdlCY)
Bettgeschichten
Es gibt nicht viele ZW-Songs, die im Bett spielen - auf dieser Platte hat’s gleich deren 3.
Aber auch die typischen ZW-Song-Locations werden nicht vergessen, die Bushaltestelle zum Beispiel, oder der obligate Küchentisch (diesmal sitzt David Lynch dort).
Tastenspielereien
Das Klavier spielte, von 7:7 mal abgesehen, lange keine grosse Rolle im Sound von Züri West. Aber auf diesem Album ist es fast omnipräsent, und das ist richtig gut so. Die Gitarre wird dezenter eingesetzt. ZW sind musikalisch in diesem Jahrtausend vielfältiger geworden.
D’Idee
Der grossartige Album-Opener - ein Text, den Kuno 2021 bei «10vor10» vorgelesen hat. https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/zueri-west-ikone-kuno-lauener-wird-60?urn=urn:srf:video:6034752d-2002-4fec-8448-8f9c25b7edf9
Der Song reiht sich nahtlos ein in die Gruppe der tollen ZW-Songs übers Songschreiben (zBsp. Haubi Songs, Eerlechs Lied, Göteborg, Nüt aus Nacht).
Hü
Witzige Dreiecks-Bettgeschichte. Meine Theorie: Der tote Ex, der soff und spielte und betrog, ist Hans-Peter, der alte Erzfeind von Kunos Ich-Erzähler, der ihn selbst aus dem Jenseits noch verfolgt. HP’s späte Rache für das Kuckuckskind?
Schnägg
Ein sehr lustiges Lied mit leicht melancholischem Unterton.
Bei «Schöre» und «Schtöfu» musste ich sofort an Span denken - Kuno war als Jugendlicher grosser Fan.
Mercury Blues
Richtig cooler Elektroblues mit einer heissen Gitarre. Wer behauptet, ZW könnten 2023 nicht mehr rocken, soll sich diesen Track laut anhören.
Loch dür Zyt
Ja, das ist die perfekte 1. Single. Der Song schliesst einen Kreis, schlägt eine Brücke von heute zurück in die Band-Anfänge.
Schön, dass wir nach 40 Jahren endlich erkennen können, was für eine grossartig poetische Zeile «Mir frässen’üs es Loch dür Zyt» ist.
Am Ende der Studioversion klingelt ein Telefon. Wer ruft wohl an? Ich glaube, es ist Lou Reed aus Lied Nr. 12: «Kuno, komm runter, ich warte an der Bushaltestelle!»
Badalamenti am Klavier
Kuno lässt sich gern von Büchern und Filmen zu Lyrics inspirieren - hier ist’s David Lynchs grossartige TV-Serie «Twin Peaks». Das passt: Denn wie dieses Album strotzte Lynchs Neuauflage «Twin Peaks - The Return» von 2017 nur so von Selbst-Zitaten.
Blueme Tier u Vögu
Ein schönes, pures Liebeslied. Mir gefällt das kindliche «Bimerbliebebitte» am Schluss. Schön, hatte dieser Sohn Platz.
Im Bett
Ich muss grinsen bei dieser Ode ans Bett. Sie kommt in Kunos Mundartübersetzung wesentlich geschmeidiger und noch verschmitzter daher als im hochdeutschen und etwas gstabigen Original von Frostschutz.
Schöne Morge im April
Ein Lied aus der Corona-Pandemie von einem, der sich zurückgelassen fühlt und auf das Zwitschern (oder Twittern?) einer Amsel wartet. «I wünsche mir e Frou» - ein weiterer Callback ans «Sport & Musik»-Album (Ragazze & Ragazzi).
Schnee vo Philadelphia
Ein wunderschöner Trennungs-Song. Es geht nicht um eine Frau, sondern - der Callback an die «Hoover Jam»-Aufnahmen in Philadelphia verrät’s - um die Band, wahrscheinlich um den Ausstieg von Drummer Gert Stäuble.
Und nun die 3 Schlussongs übers das, was zu Ende geht, übers Loslassen, Abschliessen, Abschiednehmen und Sterben. Sie sind ein emotionaler Hammer - für mich schon ziemlich nahe beim grandiosen Schlusstrio von R.E.M.s «Automatic For The People»-Album, einem thematisch ähnlichen Album.
Ich weiss, man soll den Ich-Erzähler nie mit dem Texter gleichsetzen, vor allem nicht bei einem brillanten Geschichtenerzähler wie Kuno, der schon aus der Sicht von Kinderschändern, Selbstmördern, Amokläufern oder Vampieren sang. Und trotzdem: Ich schaff’s nicht. Ich höre 3 Songs von einem, der sich intensiv mit dem Tod befasst.
Blätter gheie
Ein Herbstlied mit Blättern, die absterben, vom Baum fallen und im Wind herumwirbeln. «Dass Stärbe eso luschtig cha sii», singt Kuno.
Vanishing Act
Der Ich-Erzähler nimmt, zusammen mit Lou Reed, den Bus «dür e Näbu, über d’Brügg» an einen Ort, der nicht auf dieser Ort zu sein scheint. Zurück will er nicht mehr. Ein sanftes Cembalo ist zu hören, als würde John Lennon im Himmel in freudiger Erwartung “Because” von den Beatles klimpern.
Viel stärker als Lou Reed im Original textet Kuno hier in Richtung Sterben, finde ich. Wäre dies der letzte Track auf dem Album - ich würde viel zu viel in diese Lyrics hineininterpretieren und wäre am Boden zerstört.
Winterhale
Aber zum Glück kommt noch dieses stimmungsvolle Meisterwerk des Albums. Kuno spaziert müde und melancholisch, aber trotzig zuversichtlich einem neuen Jahr entgegen. «No grad giben’i nid uf». Spätestens da fliessen bei mir die Tränen. Und mein Herz chlopfed u chlopfed u chlopfed.
Bei Züri West kann ich nicht neutral werten. Ich finde das Album grandios. Ein würdiges Werk einer meiner liebsten Schweizer Band. Würden Kuno, Küse & Co. nun im U3 den Stecker ziehen - ich wäre zwar unendlich traurig, aber es wäre ein starker Schlusspunkt.